Nerv getroffen: Die Neurologen und der Kulturkampf um ME/CFS

Haarige grüne Raupe mit rotem Stachel
Newsletter #50 – 23. Juli 2025
Thema: ME/CFS 

Liebe Leserinnen und Leser,

von „Hetze“ gegen Betroffene, gar von einer „Kriegserklärung“ an die Erkrankten war in ersten Social-Media-Kommentaren die Rede. Außenstehende mögen sich verwundert die Augen reiben, dass eine medizinische Fachgesellschaft mit einer Publikation derartig heftige Reaktionen hervorruft. Wer sich mit der chronischen Multisystemerkrankung ME/CFS befasst, für den war die Empörung programmiert. Die hochpolitischen Hintergründe sind wichtig – und es ist spannend, die Rolle einzelner Beteiligter näher zu betrachten. (Dies zu meiner Rechtfertigung, weshalb dieser Newsletter heute etwas länger ausfällt …)

Was ist geschehen? Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat gestern eine kurze „Stellungnahme“ mit dem Titel „Zum aktuellen Forschungsstand bei ME/CFS“ veröffentlicht. Die ist in weiten Teilen einigermaßen unspektakulär. Zum Beispiel hält sie (sinngemäß) fest, dass bisher noch kein Biomarker – also ein objektiver Labornachweis – für die Diagnose ME/CFS existiert, dass die genauen Krankheitsmechanismen noch nicht geklärt sind, dass die immunologische Forschung noch keine Evidenz für wirksame Therapien hervorgebracht hat und dass der Name „ME“ eigentlich unpassend ist: Er steht für eine Myalgische Enzephalomyelitis, also eine Entzündung der Nerven von Gehirn und Rückenmark, die aber nun einmal bei vielen ME/CFS-Betroffenen gar nicht nachzuweisen ist.

Dass es bei alledem um mehr geht, merkt ein Journalist spätestens dann, wenn sich noch am Tag der Veröffentlichung proaktiv mehrere Professoren bei ihm melden, um den Kampf um die Deutungshoheit zu eröffnen. Das passiert sonst eher selten – also schauen wir einmal genauer hin. 

Ohne Quellen

Bemerkenswert an dem knappen Text ist vor allem, dass er zwar viele Aussagen trifft, dabei aber ohne eine einzige Referenz auskommt.

Selbst bei wissenschaftlichen Meinungsbeiträgen ist das ansonsten Standard. Den Anspruch artikulieren, den „Forschungsstand“ wiederzugeben, dann aber eine Publikation ohne jede Quellenangabe, ohne Studienvermerk, ohne Literaturliste – wow. Das muss man als medizinische Fachgesellschaft erst einmal so machen. Ich habe heute telefonisch in der DGN-Pressestelle angefragt, wo ich denn die ausführliche Fassung mit den ganzen Referenzen finden kann. Meine sehr freundliche Gesprächspartnerin lachte etwas gequält und sagte schließlich: „Ehrlich gesagt gibt es nur diese Fassung [d. h. die veröffentlichte ohne Anmerkungen; Anm. mr].“

Ob nun Chuzpe oder Nachlässigkeit – diese auffällige Lücke war es allerdings gar nicht, die all das Empören hervorrief. Dafür war besonders eine Aussage aus der Stellungnahme verantwortlich:

„Angesichts der bisherigen Erkenntnisse ist derzeit nicht davon auszugehen, dass immunologische Faktoren eine entscheidende Rolle bei ME/CFS spielen.“

Deshalb solle künftige Forschung „nicht vorwiegend auf immunologische Erklärungsansätze gerichtet sein“, sondern auch „diagnostische und therapeutische Verfahren aus anderen Bereichen der Medizin, einschließlich dem Bereich psychischer und psychosomatischer Erkrankungen und funktioneller Störungen“ mit einbeziehen. Letzteres ist eigentlich längst gang und gäbe. Zum Beispiel gehört es zum Standard, vor jeder ME/CFS-Diagnose abzuklären, ob andere neurologische oder psychische Erkrankungen vorliegen. Und in der Forschung passiert derzeit ebenfalls ziemlich vieles außerhalb der Immunologie. Ja, es gibt sogar Neurologen, die die Wirksamkeit von Kneipp-Kuren auf das Post-Covid-Syndrom untersuchen (das sich mit dem oft ebenfalls postviral ausgelösten ME/CFS überschneidet).

Politische Trigger

Offenbar haben einige aktuelle Entwicklungen dazu geführt, dass die DGN ihre kurze Stellungnahme gerade jetzt publiziert hat.

Die neuen Bundesministerinnen für Gesundheit und Forschung, Nina Warken (CDU) und Dorothee Bär (CSU), haben sich bereits mehrfach in ihrer kurzen Amtszeit dazu bekannt, Forschung und Versorgung bei ME/CFS voranzutreiben.

Der geschiedene Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sorgte zudem gleich mehrfach für Aufsehen: Erst, als er mit einem Post auf X auf die Ankündigung einer jungen ME/CFS-erkrankten Frau reagierte, die angekündigt hatte, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen (und dies kurz darauf auch in die Tat umsetzte). Später, als er in einem „Spiegel“-Interview nicht weniger als eine Milliarde Euro an Forschungsgeldern forderte, um wissenschaftlich voranzukommen. Es gibt also einerseits eine hoch emotionale Debatte sowie schlimme Schicksale – und für die Wissenschaft andererseits einen möglicherweise wachsenden Kuchen zu verteilen.

Große Lücken

An der DGN-Stellungnahme vermisse ich – neben Quellen – vor allem drei Punkte:

  • Mit den nicht seltenen „Suizidgedanken“ von Betroffenen begründet die DGN, dass „eine psychiatrische Mitbetreuung geboten“ sei. Das ist erst einmal unbedingt zu unterstützen.

    Womit sich die Stellungnahme nicht befasst: Dass vielen Betroffenen die Offenheit für eine psychiatrische Begleitung fehlt, liegt daran, dass sie sich von Ärzten und Therapeuten oft mit ihren körperlichen Beschwerden nicht ernst genommen fühlen. Die (wenige) bisherige Forschung zum Thema ME/CFS und Suizid, vor allem aus den USA und der Schweiz, deutet darauf hin, dass die fehlende Akzeptanz und Stigmatisierung wesentliche Auslöser derartiger Gedanken sind (mehr dazu – mit Quellen 😊 – hier). Sich damit auseinanderzusetzen, das wäre doch eigentlich ein wichtiges Thema für die Fachgesellschaft!

  • Da es Stand heute tatsächlich keine zwingende Evidenz zu den Krankheitsmechanismen gibt, denke ich: Man kann wissenschaftlich durchaus zum Beispiel die Auffassung vertreten, dass immunologische Faktoren keine Rolle für postinfektiöse Syndrome wie ME/CFS oder Post Covid spielen. Man muss dann  nur auch zur Kenntnis nehmen, dass ein ziemlich großer Teil der zu diesem Thema Forschenden dies ganz anders sieht.

    In einem Übersichtsartikel habe ich kürzlich zusammengefasst, wie beispielsweise in zwei unabhängig voneinander entstandenen Tierversuchen mit Mäusen Autoantikörper von Long-Covid-Patienten dieselben Symptome bei den Tieren auslösten. Und wie deutlich auch Messwerte zeigen, dass die für ME/CFS typische Post-Exertionelle Malaise (eine Zustandsverschlechterung nach Belastung) sich deutlich von einer Dekonditionierung abhebt, wie sie entsteht, wenn Menschen krankheitsbedingt (auch etwa aufgrund von einer Depression) längere Zeit inaktiv bleiben (die Studien sind in meinem Artikel verlinkt).

    Das ist alles noch nicht so weit, dass man nicht auch andere Positionen vertreten könnte – nur sollte es eigentlich selbstverständlich sein, dass man diese dann auch begründet, dass man sich erkennbar mit gegenteiligen Studiendaten auseinandersetzt und dass man erklärt, aus welchen wissenschaftlichen Gründen man diese Hinweise als nicht maßgeblich einstuft. Indem die DGN auf jede erkennbare Auseinandersetzung mit der Literatur verzichtet, entzieht sie ihre Stellungnahme dem ernsthaften, kritischen Diskurs.

  • Warum bleibt sie bei der Kritik am ersten Namensbestandteil „ME“ stehen und betrachtet nicht auch den zweiten, „CFS“? Das „Chronische Fatigue Syndrom“ reduziert eine komplexe Erkrankung auf Erschöpfungszustände, was den Betroffenen ebenfalls nicht gerecht wird, ihre Symptomatik verharmlost. Das lässt die DGN unerwähnt, was zu dem Eindruck beiträgt, dass die Stellungnahme eine gewisse Schlagseite hat.

Hat Professor Kleinschnitz recht?

Nun jedenfalls hat der Kampf um die Deutungshoheit um die Publikation begonnen. ME/CFS sei „keine somatische Erkrankung“, verkündete Christoph Kleinschnitz, Leiter der Neurologie am Uniklinikum Essen und die lauteste ME/CFS-skeptische Stimme in der Wissenschaft, praktisch im Augenblick der Veröffentlichung der Stellungnahme. Er sieht sich durch seine Fachgesellschaft in der Meinung bestätigt, die er schon immer vertreten hat.

Hat er damit recht? Die kurze Antwort lautet: Nö.

Denn dass es sich bei ME/CFS nicht um eine somatische (körperliche), sondern um eine psychisch bedingte Erkrankung handelt, steht gar nicht in der Stellungnahme. Das bestätigte mir auch Harald Prüß, Neurologe an der Berliner Charité und Sprecher der DGN-Kommission Neuroimmunologie, die für das Thema ME/CFS federführend ist. Er schrieb mir per Mail:

„Dass es sich um keine somatische Erkrankung handelt, lässt sich dem Statement nach meiner Betrachtung so nicht entnehmen. Vielmehr wird im Wesentlichen auf den wichtigen Umstand hingewiesen, dass die hohe Komorbidität psychiatrischer Symptome in der Praxis auf nicht ausreichend berücksichtigt wird und daher einem großen Teil der Patienten nicht die professionelle (psychiatrische und Versorgungs-) Unterstützung zukommt, die heute schon möglich wäre.“

Warum Professor Schomerus als Autor verschwand

Wie entstand die Stellungnahme? Die Nennung einzelner Autoren unter dem Text sorgte für einige Missverständnisse, wer eigentlich dahinter steht und we nicht. Richtig ist:

Es handelt sich um eine Position des aktuellen DGN-Vorstandes, maßgeblich vorbereitet von DGN-Generalsekretär Peter Berlit, der 2018 als Chefarzt der Neurologischen Klinik am Alfried Krupp Krankenhaus Essen in den Ruhestand ging und seither privatärztlich tätig ist. 

Die eigentlich federführende DGN-Kommission Neuroimmunologie, die ebenfalls genannt wird, habe „im Vorfeld beratend zur Stelle“ gestanden, erläutert Sprecher Harald Prüß

Christoph Kleinschnitz wird nicht benannt, war aber nach eigener Angabe am Prozess beteiligt. Das ist auch insofern stimmig, als dass er mit den Fachkollegen Christian Geis und Frank Erbguth bereits gemeinsam publiziert hat (mit Erbguth zum Beispiel den ebenfalls empörte Reaktionen auslösenden Text über „Long Covid und die Psycho-Ecke“ im Deutschen Ärzteblatt). Die beiden sind neben Peter Berlit als einzige namentlich als Mitautoren der Stellungnahme benannt. Berlits Essener Praxis ist vom Uniklinikum Essen zudem kaum eine halbe Stunde entfernt – zu Fuß.

Ursprünglich hatte noch ein vierter Name unter der DGN-Stellungnahme gestanden: Der von Georg Schomerus, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uni Leipzig. Das hatte viele verwundert, zumal Schomerus regelmäßig vor der Stigmatisierung von ME/CFS-Betroffenen warnt (etwa in meinem Interview) und in seinen Vorträgen so manches Kleinschnitz-Zitat als Negativ-Beispiel nutzt. Doch kurz nach Publikation der Stellungnahme verschwand Schomerus‘ Name wieder von der DGN-Website.

Er geht von einem „Versehen“ aus und schrieb mir:
„Ich wurde von Herrn Berlit um Kommentare zu einer vorherigen Version der Stellungnahme gebeten. Auf diese Kommentare hin wurden einige Stellen verändert, durchaus in meinem Sinne, und ich wurde als Autor hinzugefügt. Weil der Text aber immer noch weit von dem entfernt war, was ich für vertretbar halte, habe ich weitere Änderungen vorgenommen – und in einer zweiten E-Mail geschrieben, dass ich mich nicht als Mitautor der Stellungnahme sehe.“

Als er dennoch genannt wurde, habe er interveniert – und sein Name wurde sofort wieder entfernt.

Bald kommt eine Studie zur Immunadsorption
 
Verschiedene Gegen-Stellungnahmen, so höre ich, sind bereits in der Mache. Der aus Sicht der Betroffenen recht unwürdige Kulturkampf um ME/CFS tobt damit aufs Neue – und dies ziemlich erbittert, wenn man sich heute manches Social-Media-Battle zwischen namhaften Professorinnen und Professoren ansah.

Zum Glück jedoch geht auch die Forschung weiter. Zum Beispiel der mit Spannung erwartete kontrollierte Versuch unter Leitung von Harald Prüß, der die Wirkung der Immunadsorption untersucht. Bei dem Verfahren werden Autoantikörper aus dem Blut gewaschen – es zahlt also ein auf eine der maßgeblichen, immunologisch geprägten Hypothesen zu den Mechanismen hinter ME/CFS. Die Studie komme im August in den „Abschluss des klinischen Follow-ups“, so der Charité-Neurologe: „Dann werden wir entblindet und ich bin sehr gespannt, was das Ergebnis sein wird.“

In der Tat kann es nur gut sein, wenn wieder über Forschungsergebnisse diskutiert wird. 

Herzliche Grüße, 

Ihr Martin Rücker

P.S.: Über den aktuellen Forschungsstand zu den verschiedenen Apherese-Verfahren (Blutwäsche) einschließlich der Immunadsorption habe ich mit dem Nephrologen Georg Schlieper gesprochen. Das Interview finden Sie bei RiffReporter

P.P.S.: Das Foto oben zeigt Jennifer Brea in einer Szene aus der ME/CFS-Doku »Unrest«, die bei YouTube zu sehen ist. Credits: Jason Frank Rothenberg/Shella Films 

Meine Recherchen erstrecken sich immer wieder über lange Zeiträume. Oft sind aufwändige Antragsverfahren und mitunter auch Klagen erforderlich, um Informationsrechte bei Behörden und Ministerien durchzusetzen. Wenn Sie diese Arbeit unterstützen wollen, können Sie mir hier eine Spende zukommen lassen: